Hundetherapie Ukraine

Therapeut auf vier Pfoten

In der Ostukraine helfen Hunde, vom Krieg traumatisierte oder behinderte Kinder zu behandeln.

Text
Philipp Hedemann
Fotos
Olexandr Techynskyi

Vorsichtig steigt Crass über die roten, blauen und grünen Schaumstoffblöcke. Immer wieder dreht er sich dabei um und schaut, ob Arina ihm folgen kann. Braucht sie noch Zeit, um die Hindernisse zu überwinden, bleibt er geduldig stehen. Crass ist ein dreijähriger Labrador, Arina ein sechsjähriges Mädchen. Bei ihrer Geburt wurde sie mit zu wenig Sauerstoff versorgt, seitdem leidet sie unter spastischen Lähmungen. Bislang konnte sie ohne Hilfe kaum gehen. Das ändert sich durch Crass. „Das ist der absolute Wahnsinn! Arina macht so große Fortschritte, Crass holt alles aus ihr raus“, sagt Arinas Mutter Jelena Trofimova.

Crass beim Spielen mit Arina und Psychologin Olga Brashuk

Die Hochschuldozentin ist mit ihrer Tochter zur Hundetherapiesitzung in ein Rehazentrum in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol gekommen. Hier werden Kinder und Jugendliche mit motorischen, kognitiven und psychischen Problemen behandelt. Seit 2017 werden die Expert*innen dabei von Therapiehund Crass unterstützt. Arina ist eine von derzeit acht jungen Patientinnen und Patienten, die in dieser Einrichtung an dem Pilotprojekt teilnehmen. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH unterstützt damit behinderte Jungen und Mädchen. Einige von ihnen sind vom Krieg in der Ostukraine traumatisiert. Finanziert wird das Projekt vom Bundesentwicklungsministerium.  

Für Arina ist die Zeit mit Crass die schönste halbe Stunde der Woche. Crass springt freudig auf und bellt zur Begrüßung, als die Sechsjährige an der Hand ihrer Mutter den Therapieraum betritt. Arina lächelt und fällt Crass um den Hals. Später folgt sie ihm nicht nur über die bunten Hindernisse, sie wirft ihm Ringe und Bälle zu, führt ihn an der Leine und gibt ihm selbstbewusst Kommandos: „Sitz!“, „Platz!“ und „Gib Pfote!“. Und sie freut sich, als der große Hund genau das tut, was sie sagt. Am Ende der Sitzung liegt Arina glücklich und müde auf dem Brustkorb des Hundes und spürt seinen Herzschlag. „Ich habe Crass lieb“, seufzt Arina.

Links oben: Die vierjährige Alina geht vertraut mit Hündin Hillary um. Zu Beginn der Therapie hatte das Mädchen vor allem und jedem Angst. Sie konnte nicht laufen und sprach nicht. Unten: Alexey Birintsev kam auf die Idee, seinen Hundauszubilden – mit großem Erfolg, wie die Therapiestunde mit Miroslav zeigt. Rechts: Zuneigung ohne Worte – die sechsjährige Arina während der Therapiestunde mit Labrador Crass

„Glück ist die beste Medizin, und Crass bringt viel Glück in das Leben unserer Kinder“, sagt Olga Brashuk. Bei allen Kindern, die regelmäßig an den Sitzungen mit dem Therapiehund, einer Hundetrainerin oder einem Hundetrainer und ihr teilgenommen haben, beobachtet die Psychologin große Entwicklungsfortschritte. So auch bei Arina. „Meine Tochter kann sich nicht nur viel besser bewegen, sie hat sich auch emotional geöffnet. Sie kann viel besser sprechen, hat seltener Angst, ist ausgeglichener, selbstbewusster und entspannter. Ich bin sehr dankbar, dass es für uns dieses kostenlose Angebot gibt“, sagt Jelena Trofimova. Weil Olga Brashuk und ihre Kolleginnen eine Hundetherapie bei Arina für besonders dringend geboten und aussichtsreich hielten, wurden die Sechsjährige und ihre Familie für das Pilotprojekt ausgewählt.

Der Krieg hat viele traumatisiert

Dass diese Behandlungsmethode in der Ostukraine überhaupt möglich ist, liegt unter anderem an Crass’ Besitzer Alexey Birintsev. Als er seinen Hund zum Such- und Rettungshund ausbilden ließ, um mit dem Labrador nach Bombenangriffen Überlebende aufzuspüren, hörte er davon, dass Hunde nicht nur Verschüttete finden, sondern auch Traumatisierte heilen können. Menschen, bei denen der Krieg in der Ostukraine körperliche und seelische Schäden hinterlassen hat, gibt es in Mariupol viele. Nur wenige Kilometer östlich der Stadt wird seit Anfang 2014 gekämpft. Der Krieg zwischen der ukrainischen Armee auf der einen Seite und prorussischen Separatisten auf der anderen Seite reicht bis in die Hafenstadt. Zehntausende Menschen flüchteten seit Konfliktbeginn in die Stadt, in der man oft den Gefechtslärm der nahen Front hört. „Viele Kinder in Mariupol wissen leider aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren. Der Bedarf an Traumatherapie mit Hunden ist enorm, aber früher gab es hier keine entsprechenden Angebote“, weiß Birintsev.

„Seitdem Alina mit Hillary spielt und schmust, lässt sie auch mehr menschliche Nähe zu.“

Ludmila Bylitko, Psychologin im Kindertherapiezentrum

Die Idee, in der Ostukraine Hundebesitzer*innen und Psycholog*innen zusammenzubringen und zu Therapieteams weiterzubilden, wurde im Austausch mit dem Ukrainischen Roten Kreuz in Mariupol und dem örtlichen Hundetrainerverein geboren“, sagt Alexander Otto. Der GIZ-Experte betreut das Hundetherapieprogramm. Zusammen mit internationalen und lokalen Fachleuten entwickelte die GIZ ein Training und Prüfungen, die bislang 17 Hundebesitzer*innen, 18 Hunde und 41 Psycholog*innen absolviert haben. „Trainiert und geprüft werden Mensch und Tier“, so Alexander Otto.

Auch Elena Lakhno hat mit ihrer Hündin Hillary die Abschlussprüfung bestanden. Ein Jahr später liegt Hillary in einem gemütlich eingerichteten Spielzimmer in einem Kindertherapiezentrum in der ostukrainischen Großstadt Saporischschja auf einer Matte und lässt sich von Alina mit einer Bürste durch das weiße Fell fahren. „Schau, Hillary mag es, wenn du sie kämmst“, sagt Psychologin Ludmila Bylitko mit ruhiger Stimme zu Alina.

Erst die Hundetherapie wirkte

2017 brachte das Jugendamt die heute Vierjährige in das Therapie- und Kinderzentrum. Alina konnte damals nicht laufen, sprach nicht, schlug ihren Kopf oft gegen die Bettkante, hatte vor allem und jedem Angst. Sie wollte sich nicht berühren lassen, vertraute niemandem, weinte viel und konnte sich nicht mitteilen. Ihre Betreuer*innen wissen bis heute nicht, was das Mädchen in den ersten drei Lebensjahren bei ihren suchtkranken Eltern erleiden musste. Sie versuchten verschiedene Therapieansätze, hatten jedoch nur sehr wenig Erfolg. Bis Elena Lakhno mit Hillary kam, einer Samojeden-Hündin. Tiere dieser nordischen Rasse haben sich als Schlitten- und Hütehunde bewährt. Bei der ersten Sitzung hatte Alina zwar noch Angst vor Hillary, aber schon in der zweiten Sitzung gelang es ihren Therapeut*innen, über das Tier endlich einen Zugang zu dem kleinen Mädchen zu finden.

 

UKRAINE

 

Hauptstadt: Kiew / Einwohnerzahl: 45 Millionen / Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 2.640 US-Dollar / Wirtschaftswachstum: 2,5 Prozent / Rang im Human Development Index: 88 (von 189)
Quelle: Weltbank 2017

Das Projekt „Therapiehunde“ ist eine der Initiativen des Infrastrukturprogramms für die Ukraine. Davon profitieren bereits 6,5 Millionen Menschen. 40.000 Kinder erhalten bessere Ausbildungsbedingungen und 3,5 Millionen Menschen Zugang zu verbesserten kommunalen Dienstleistungen.

Kontakt: René Hingst, rene.hingst@giz.de

„Seitdem sie mit Hillary spielt und schmust, lässt sie auch mehr menschliche Nähe zu. Der Hund stimuliert alle Bereiche ihres Gehirns. Alina macht deshalb große motorische Fortschritte. Außerdem interagiert sie jetzt mit anderen Kindern, ist selbstbewusster, ausgeglichener und nicht mehr autoaggressiv“, sagt Psychologin Ludmila Bylitko. Dann fügt sie hinzu: „Vielleicht hätten wir all diese Erfolge irgendwann auch ohne einen Therapiehund erzielen können, aber ganz bestimmt nicht in dieser kurzen Zeit.“

Hunde und Menschen: ein großartiges Team

Seitdem sie gelernt hat, Menschen zu helfen, hat Hillary nicht nur Alinas Leben, sondern auch das ihrer Besitzerin komplett verändert. „Natürlich kann ein Hund keine Diagnose stellen und niemanden alleine therapieren. Er wird nie Psycholog*innen ersetzen können. Aber Hunde und Menschen können zusammen ein großartiges Team bilden und in kurzer Zeit sehr viel erreichen“, sagt Hundebesitzerin Elena Lakhno. Einmal pro Woche kommt sie mit Hillary zu den Therapiesitzungen im Spielzimmer. Die Dauer einer Hundetherapie richtet sich individuell nach dem Bedarf des Kindes und währt in der Regel mehrere Monate.

Weil Elena Lakhno schon nach wenigen Sitzungen von den Fortschritten, die sie mit ihrem Hund erzielen konnte, überrascht und begeistert war, hat die Friseurin sich jetzt entschieden, berufsbegleitend Psychologie zu studieren und die bisher ehrenamtliche Arbeit mit Hillary zu ihrem Beruf zu machen. Die 30-jährige Mutter von zwei Kindern sagt: „Ich hoffe, dass ich so weitere Hundebesitzer*innen dazu motivieren kann, ihre Tiere auszubilden. Die Jungen und Mädchen in der Ostukraine brauchen diese Hilfe.“

 

 

 

 

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