Altenpfleger aus Vietnam

Pioniere mit Zukunft

In Deutschland fehlen Altenpfleger, in Vietnam finden viele junge Menschen keinen Arbeitsplatz. Ein Projekt zur Berufsbildung nützt beiden Seiten.

Text
Christine Mattauch
Fotos
Stephanie Füssenich

Schwarze Leggings, roter Anorak, über der Schulter ein kleiner Rucksack: So steht sie um halb sieben Uhr morgens an der Pforte. Mit ihren 1,60 Metern könnte man sie für eine Schülerin halten, und in gewisser Weise ist sie das auch: Thi Thuy Ngan Kieu ist aus Vietnam gekommen, um zu lernen. Im Leonhard-Henninger-Haus im Münchner Stadtteil Schwanthalerhöhe wird die 25-Jährige zur Altenpflegerin ausgebildet.

Sie gehört zu den 100 jungen Frauen und Männern, die an einem Pilotprogramm zur Fachkräftesicherung teilnehmen. Organisiert wird es von der GIZ im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie und in Zusammenarbeit mit der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit. In Deutschland fehlen schon heute Altenpfleger: 2014 kamen auf 100 offene Stellen nur 39 arbeitslose Pfleger. Bis 2030 könnte eine halbe Million Stellen unbesetzt bleiben. Die südlichen und östlichen EU-Mitgliedsstaaten nehmen eine ähnliche demografische Entwicklung wie Deutschland. Gleichzeitig finden in Vietnam viele Menschen keine Arbeit. Ihnen Ausbildung und Bleiberecht in Deutschland anzubieten, liegt nahe. Im September 2013 haben Ngan, so ihr Rufname, und ihre Kolleginnen – auch ein paar männliche Kollegen – in Deutschland angefangen. Ihre Ausbildungsorte liegen in Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und Niedersachsen. Seit Sommer 2015 ist eine weitere Gruppe in Deutschland. Später sollen die Altersheime selbst aktiv werden.

Verdienst nach Tarif und gute Aufstiegschancen

Spätestens seit den Erfahrungen mit der ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren weiß man in Deutschland aber auch um die Probleme der Migration. Und so achten die Projektverantwortlichen – zu denen auch das Arbeits- und Sozialministerium in Hanoi gehört – streng darauf, dass alle Beteiligten profitieren. Auch langfristig. „Mich begeistert besonders, dass sie beruflich die gleichen Startbedingungen haben wie Deutsche“, sagt Reinhild Renée Ernst von der GIZ. Es sei eben nicht so, dass die Vietnamesen als billige Hilfskräfte engagiert würden. Sie lernen den Beruf von Grund auf und verdienen nach Tarif. Der ist entgegen landläufiger Auffassung gar nicht schlecht: Mit rund 1.800 Euro netto kann eine Fachkraft nach der Ausbildung rechnen. Die Vietnamesen haben zudem die gleichen Aufstiegschancen. Und schließlich: Arbeiten sie – einschließlich der Ausbildung – fünf Jahre, erhalten sie ein dauerhaftes Bleiberecht.

Eilig fährt Ngan mit dem Aufzug in den dritten Stock des Leonhard-Henninger-Hauses und verschwindet in der Kleiderkammer. Kommt heraus in der Uniform der Pflegekräfte: lila Zweiteiler, weiße Turnschuhe. Die glatten langen Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden. Erste Aufgabe: wecken. „Guten Morgen, möchten Sie aufstehen?“, ruft sie freundlich in den ersten halbdunklen Raum. Hilft dann beim Aufrichten, steckt Füße in Pantoffeln, zieht den Rollator heran, begleitet ins Badezimmer, schließlich in den Frühstückssaal. Und dann ist schon das nächste Zimmer dran.

Sechs Monate Deutschkurs

Längst ist das Routine. Die harten ersten Monate hat „Nani“, wie sie von Senioren und Kollegen genannt wird, trotzdem nicht vergessen. Das größte Problem: die Sprache. „So schwierig“, sagt sie, „andere Melodie.“ Zwar hat sie, wie alle Teilnehmer des Projekts, vor ihrer Ankunft in Deutschland einen sechsmonatigen Deutschkurs absolviert – aber der reichte bei weitem nicht für den Alltag. Zumal die Vietnamesen wegen ihrer fachlichen Vorkenntnisse gleich im zweiten Ausbildungsjahr einstiegen. Angeworben wurden nämlich nur ausgebildete Krankenschwestern und -pfleger. Das sollte auch gewährleisten, dass sie eine Vorstellung davon haben, was sie konkret erwartet. Denn in Vietnam ist der Beruf des Altenpflegers erst im Entstehen, dort werden Groß- und Urgroßeltern traditionell in der Familie betreut.

Als jüngstes von sechs Geschwistern ist Ngan in Ho-Chi-Minh-Stadt aufgewachsen, dem früheren Saigon und Vietnams größter Metropole. Über das Projekt habe sie „im Internet“ gelesen, sagt sie. Da hatte sie ihre Ausbildung als Krankenschwester schon beendet. Von Deutschland wusste sie nicht viel: „Liegt in Europa, man kann von dort reisen, und, na ja, das Bier halt.“

Die Stationsleiterin sorgt für Integration

Sie erzählt, wie sie zur Begrüßung in ein bayerisches Restaurant eingeladen wurde und es Schweinebraten gab: „So groß“ sei er ihr vorgekommen, ihre Hände malen einen Kreis wie ein Wagenrad, und salzig habe er geschmeckt. „Das mochte ich nicht.“ Der kleine Satz zeigt, wie gut sie sich eingestellt hat auf ihr neues Leben. In Vietnam wäre es unhöflich, so etwas zu sagen, aber in Deutschland darf man das, hat sie gelernt. „Deutsche sind immer sehr direkt.“

„Anfangs hat sie, wenn wir uns im Flur begegneten, die Augen niedergeschlagen und traute sich kaum vorbei“, erinnert sich Heimleiter Frank Chylek. Der Respekt vor Vorgesetzten ist in Asien weitaus stärker als in Deutschland. Dafür sind auch die Ansprüche an die Gemeinschaft am Arbeitsplatz höher. Ngan hatte Glück, an Stationsleiterin Zuhra Iljkic zu geraten, die ihr 14-köpfiges Team mit mütterlicher Wärme führt. Iljkic stammt aus Bosnien, wie viele der Pflegerinnen. „Ich hab’ Nani ins Team integriert“, sagt sie einfach. Dazu gehörte die klare Anweisung an alle, sich ausschließlich auf Deutsch zu verständigen – damit sich niemand ausgegrenzt fühlt.

Wichtig ist die richtige Technik

Auch die unterschiedlichen Nähe- und Distanzerwartungen galt es auszutarieren. In Vietnam ist Körperkontakt nur unter Verwandten und sehr guten Freunden üblich. Ngan hat sich umgestellt. „Sie küsst uns alle zur Begrüßung, wie die Bosnierinnen“, sagt Iljkic.

Frühstückspause für die Pflegerinnen. Ngan stellt Brot und Joghurt auf die Tischdecke mit den rosa Tulpen. „N’ Guadn“, wünscht sie den Kolleginnen in astreinem Bayerisch und bittet um Brotaufstrich: „Ich nehme heute Nutella.“ Eine Pflegerin, die aus Angola stammt, lacht gutmütig: „Du willst wohl zunehmen?“ Von Anfang an war das ein Thema: Einige Heimbewohner wollten sich zuerst nicht von ihr pflegen lassen, weil sie fürchteten, die zierliche Vietnamesin hätte zu wenig Kraft, um sie beispielsweise aus dem Rollstuhl zu heben. „Aber dafür gibt es Techniken“, sagt Ngan selbstbewusst. Liselotte K., eine fröhliche 91-Jährige mit gepflegtem weißen Haar und akkuratem Halstüchlein, bestätigt das – sie war Ngans Model bei der Pflegeprüfung. „Nani macht das mit Schwung“, sagt sie, „sie ist eine wunderbare Schwester.“

Gemeinsames Spiel ist ebenso wichtig......wie das tägliche Messen des Blutdrucks (links) oder auch die Justierung eines Hörgeräts (rechts).Zu den Aufgaben im Alltag der vietnamesischen Altenpflegerin gehört auch, Medikamente vorzubereiten (links) und zu verabreichen. Am Abend kauft Ngan für das gemeinsame Kochen mit ihren Freundinnen ein (rechts).  Bildergalerie: Aufgaben im Alltag der vietnamesischen Altenpflegerinnen.

Jeder im Heim sagt, wie freundlich die Vietnamesinnen seien. Andersherum betont Ngan, Ausländerfeindlichkeit habe sie nicht erlebt. Übrigens haben 60 Prozent der Pflegekräfte im Heim einen Migrationshintergrund. Wenn es Irritationen gab, dann wegen der Sprache oder weil sie neu war: Unbekannte Gesichter können beunruhigen. Die Älteste auf Ngans Station ist 105 Jahre alt; nicht wenige der Senioren sind dement.

Der Arbeitstag ist durchgetaktet

Im Aufenthaltsraum bleibt Ngan bei Hildegard S. stehen, die im Rollstuhl sitzt und den Kopf schwer auf die Brust sinken lässt. Sie richtet die 79-Jährige vorsichtig auf, zieht die Schultern zurück: „Besser gerade sitzen“, mahnt sie liebevoll. Dann kniet sie sich hin, so dass sie mit der alten Dame auf Augenhöhe ist. Stimmt ein Lied an, in das Hildegard S. sofort einfällt: „Kein schöner Land in dieser Zeit …“  Das hat Ngan in der Berufsschule gelernt. Ebenso wie die Sprichwörter zum Gedächtnistraining. „In der Nacht …“, gibt die Vietnamesin vor, „… sind alle Katzen grau“, vollendet Hildegard S.

Ngan liebt es, die alten Damen zu frisieren, ihnen die Nägel zu lackieren und beim Auftragen von Lidschatten und Lippenstift zu helfen. Dann kichern sie zusammen, wie Freundinnen. Viel Zeit bleibt dafür allerdings nicht, der Arbeitstag ist durchgetaktet. Nach dem Frühstück geht sie als Erstes zu den Bettlägerigen: Gemeinsam mit einer Kollegin gibt sie ihnen zu essen, wäscht sie und wechselt ihre Einlagen. Anschließend stellt sie Medikamente zusammen. Dann wird das Mittagessen vorbereitet. Ngan bindet sich eine weiße Plastikschürze um und füllt Suppe ab: links die Kelle, rechts die Tassen. Sie sieht müde aus.

Fast alle Teilnehmer wollen in Deutschland bleiben

Was tut sie, wenn sie gegen 15.30 Uhr nach Hause kommt? „Ausruhen“, fällt ihr als Erstes ein. Mit den drei anderen Vietnamesinnen, die ebenfalls im Leonhard-Henninger-Haus ausgebildet werden, teilt sie sich eine Dreizimmerwohnung. Da hören sie Musik und spielen mit ihren Handys, skypen mit ihren Familien in Vietnam, und abends kochen sie zusammen: Reisgerichte und Pho, die traditionelle vietnamesische Nudelsuppe. Im vergangenen Jahr besuchten sie gemeinsam eine Landsmännin in Paris. Ein seltener Luxus, denn die jungen Frauen tun sonst alles, um zu sparen und ihre Verwandten daheim zu unterstützen.

„Die Erwartungen der Familien sind hoch“, weiß Heimleiter Chylek. Entsprechend groß seien Disziplin und Fleiß der Auszubildenden. „Selbst bei der Nikolausfeier wollten sie mit mir über die Grundzüge der Palliativversorgung diskutieren.“ Keiner der 100 Teilnehmer brach vorzeitig ab, fast alle wollen bleiben. Auch Ngan. Wenn sie die Prüfungen besteht, ist ihr – ebenso wie den übrigen – eine Stelle sicher. Weitsichtig sagt sie: „Wenn ich hier eine Familie gründe, haben meine Kinder bessere Aussichten.“ Dafür ist sie auch bereit, das Heimweh zu ertragen, das sie immer wieder überfällt.

Im August kam die zweite Gruppe aus Vietnam. Schwächen des ersten Durchgangs wurden korrigiert: Unter anderem haben die Neuen ein ganzes Jahr Deutsch gelernt. Chylek ist von der Fortführung des Projekts begeistert: „Ich nehme wieder vier.“ Tandems will er bilden, die Neuankömmlinge anleiten lassen von den Pionieren. Für Ngan wird es eine Bestätigung sein, wie weit sie gekommen ist.

Ansprechpartnerin: Reinhild Renée Ernst reinhild.ernst@giz.de

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GUTE AUSSICHTEN AUF BESCHÄFTIGUNG

Projekt: Ausbildung von Arbeitskräften aus Vietnam zu Pflegefachkräften
Länder: Vietnam/Deutschland
Auftraggeber: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie
Politischer Träger: Vietnamesisches Ministerium für Arbeit, Invalide und Soziales
Laufzeit: 2012 bis 2016

In einem Pilotprojekt absolviert seit Herbst 2013 eine Gruppe von 100 jungen Vietnamesinnen und Vietnamesen eine Ausbildung zur Altenpflegefachkraft. Nach einem staatlich geförderten Sprachkurs beim Goethe-Institut in Hanoi werden sie in Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Niedersachsen ausgebildet. Berufsbegleitende Sprachkurse und interkulturelle Programme erleichtern das Ankommen. Fachnahe Koordinatoren und vietnamesischsprachige Mentoren stehen den Auszubildenden und ihren Praxispartnern vor Ort zur Seite. Der erfolgreiche Pilot wird seit August 2015 fortgeführt. Dafür haben 100 neue Auszubildende ein Jahr lang Deutsch gelernt. Vietnam hat eine sehr junge Bevölkerung – bei weitem nicht alle, die auf den dortigen Arbeitsmarkt strömen, finden eine Beschäftigung. Vietnam fördert deshalb offiziell die Auslandsbeschäftigung seiner Bürger. Viele junge Menschen sind an einer Ausbildung und einer anschließenden Stelle in Deutschland interessiert. Das Projekt nutzt dafür bestehende Verbindungen zu vietnamesischen Verwaltungen. Für die deutsche Wirtschaft ergeben sich Investitions- und Kooperationsmöglichkeiten. Die Auszubildenden werden in Zusammenarbeit mit dem vietnamesischen Arbeitsministerium und der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) der Bundesagentur für Arbeit ausgewählt.
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