Rückkehr nach der Flucht

Das bosnische Düren

Vor rund 20 Jahren entstand in Bosnien eine Siedlung für zurückkehrende Flüchtlinge. Was ist aus ihnen geworden?

Text
Krsto Lazarevic
Fotos
Chris Grodotzki

Das deutsche Ortschild in der bosnischen Peripherie wirkt surreal. „Düren“ steht in schwarzen Lettern auf gelbem Grund. In der Siedlung reihen sich kleine Häuser mit jeweils zwei Eingängen aneinander. Das „bosnische Düren“ wurde 1998 errichtet – als Teil einer Vereinbarung zwischen der Stadt Düren, dem Bundesland Nordrhein-Westfalen, der EU und bosnischen Kriegsflüchtlingen, die in Düren Zuflucht gefunden hatten.

Das provisorische Dorf Düren in Bosnien
Das provisorische Dorf Düren in Bosnien

Von 1992 bis 1995 kämpften auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas die Volksgruppen der Bosnier, Serben und Kroaten um Land und Einfluss. Ganze Dörfer und Städte wurden zerstört, es kam zu Massakern und Vergewaltigungen, etwa 100.000 Menschen starben. 1,2 Millionen Bosnier verließen ihr Land – etwa ein Drittel der Bevölkerung. 350.000 Menschen flüchteten nach Deutschland. Die meisten kehrten Ende der 1990er Jahre zurück. Nach dem Friedensvertrag von Dayton begann der Wiederaufbau des Landes. Die deutsche Bundesregierung, aber auch Bundesländer und Kommunen legten Hilfsprogramme auf, um die Rückkehrbereitschaft zu fördern.

Die frühere Heimat lag nun auf serbischem Gebiet

Die Stadt Düren, die etwa 800 bosnische Flüchtlinge aufgenommen hatte, beauftragte die GIZ – damals noch Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit –, ein provisorisches Dorf zu errichten. Die Kosten für Planung und Bau der Häuser, für die Infrastruktur des Dorfes sowie die Einrichtung einer Schreinerwerkstatt, in der zwei Rückkehrer aus der Siedlung Düren und zwei Bewohner aus Gradačac Arbeit fanden, lagen bei knapp 2,5 Millionen D-Mark. Das Projekt wurde zu 60 Prozent von der EU getragen und auch vom Innenministerium des Landes NRW unterstützt.

Die Menschen, die freiwillig zurückkehrten, erhielten knapp 2.000 D-Mark. Das Geld sollte den Lebensunterhalt für die ersten sechs Monate sichern. 230 Rückkehrer aus Düren nahmen das Angebot an und zogen 1998 ein.

Die Siedlung steht heute noch. Sie gehört zur Stadt Gradačac. Die meisten Rückkehrer waren Muslime. Die Städte, aus denen sie kamen, lagen nach dem Krieg auf serbischem Gebiet. Zudem waren ihre Häuser zerstört. Deswegen wurde die Siedlung „Düren“ auf dem Gebiet der bosniakisch-kroatischen Föderation errichtet.

Die letzten Rückkehrer

Die Siedlung war als provisorische Unterkunft gedacht – fünf Jahre konnten die Rückkehrer dort leben, ohne Miete zu zahlen. Inzwischen sind viele Bewohner in ihre eigentlichen Heimatorte zurückgekehrt. Heute leben andere Menschen in den kleinen Häusern in „Düren“: Es sind Roma, die sonst keine Bleibe finden. Neben den Häusern liegen Berge von Plastikflaschen und Autoschrott, den sie gesammelt haben. Mit der Müllverwertung verdienen sie etwas Geld.

Nijaz Mehić und seine Frau sind die einzigen Rückkehrer aus Deutschland, die noch heute in der Siedlung leben. Die anderen konnten ihre früheren Häuser auf heute serbischem Gebiet renovieren, auf bosnischem Gebiet ein neues Haus bauen oder eine Wohnung in der Stadt kaufen. Das haben die Mehićs noch nicht geschafft. Nijaz Mehić trägt eine schwarze Daunenjacke und eine schwarze Mütze. Er sieht aus wie ein Hafenarbeiter. Was er tatsächlich macht? „Ich bin Fahrer, aber nach dem Krieg war es schwer, einen Job zu finden.“

Nijaz Mehić
Nijaz Mehić

Das Ehepaar kommt eigentlich aus Modriča, rund 15 Kilometer entfernt. „Wir haben noch unser altes Haus dort, doch mir fehlt das Geld, um es zu renovieren“, sagt Nijaz. Er ist dankbar für das Asyl, das er in Deutschland bekam, und für die Unterstützung bei der Rückkehr. Er zeigt aber auch auf seine schwierigen Lebensumstände in Bosnien und sagt: „Es wäre besser gewesen, in Deutschland zu bleiben.“

Beginn einer Städtepartnerschaft

Die Stadt Gradačac hat rund 40.000 Einwohner und liegt im Nordosten von Bosnien und Herzegowina. Aus dem Rückkehrerprojekt heraus entwickelte sich eine enge Städtepartnerschaft zwischen Gradačac und Düren. Schüler besuchen sich gegenseitig, es gibt gemeinsame Stadtfeste und ein Kochbuch mit Rezepten aus beiden Ländern. 

Hajrudin Hasanbašić
Hajrudin Hasanbašić

Hajrudin Hasanbašić arbeitet im Rathaus von Gradačac und ist für die Stadtplanung verantwortlich. Bald sollen die letzten Häuschen in der Siedlung Düren abgerissen werden, bis zum Jahr 2020 entstehen dort Sozialwohnungen. Hasanbašić sieht das Rückkehrerprojekt als Erfolg: „Die meisten Bewohner konnten ihre Probleme lösen und in die Orte heimkehren, in denen sie vor dem Krieg gelebt haben.“  

Ein neuer Anfang

Manche Familien sind nicht in die Republika Srpska zurückgekehrt, konnten aber trotzdem die provisorische Siedlung „Düren“ verlassen. Zum Beispiel die Familie Hatunić. Sie hat sich in Gradačac ein Haus gekauft. Im Wohnzimmer sitzt der 29-jährige Abaz Hatunić mit seiner Tochter und seinem Vater. In hervorragendem Deutsch erzählt er von der Zeit nach dem Krieg.

Abaz Hatunić mit Vater und Tochter
Abaz Hatunić mit Vater und Tochter

Anfangs war es schwierig für die Kinder, sich in Bosnien einzuleben. Die Heimat war ihnen fremd geworden. Als Abaz Hatunić aus Deutschland zurückkehrte, war er zehn Jahre alt: „Die Häuser waren völlig zerstört und ich habe mich gefragt, wo ich hier eigentlich gelandet bin. 1998 konnte man auch nicht einfach so über die Felder gehen. Alles war vermint.“ Trotzdem denkt er gerne an die Zeit im „kleinen Düren“ zurück: „Für mich waren das die schönsten Jahre. Viele bosnische Freunde, die ich in Deutschland hatte, sind mit in die Siedlung gezogen. Die Stadt Düren hat uns auch einen Spielplatz gebaut. Wir Kinder hatten alles, was wir brauchten.“

Der Familie geht es heute relativ gut. Die Deutschkenntnisse von Abaz und seiner Schwester Almina helfen, ein gutes Einkommen zu erzielen. Abaz hat einen Job bei einer bosnischen Firma, die in Deutschland arbeitet. Für jeweils mehrere Wochen ist er mit einem Arbeitsvisum in verschiedenen deutschen Städten im Einsatz. Er arbeitet auf Baustellen mit und dolmetscht. Seine Schwester Almina arbeitet in einem Callcenter.  

Zurück in Modriča

Zu jenen bosnischen Familien, die in ihre alte Heimat in der Republika Srpska zurückgekehrt sind, gehört das Ehepaar Mesić. Die meisten ihrer Nachbarn sind Serben, doch das ist heute kein Problem mehr. Der 65-jährige Azem fand sich nach der Rückkehr schnell zurecht. Er konnte wieder als Schreiner arbeiten, inzwischen steht er kurz vor der Rente. Seine Frau Sevleta hat vor dem Krieg als Einzelhandelskauffrau gearbeitet, doch sie fand nach der Rückkehr keine Arbeit. „Es ist ein Glück, dass mein Mann Schreiner ist. Dieser Beruf war hier gesucht.“

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Doch die Jobsuche war nicht für alle so einfach. „Gerade für die Frauen war es schwierig“, sagt Sevleta Mesic. „Und es gab auch die Generation von Rückkehrern, die zu jung für die Rente waren, aber zu alt, um noch eine Arbeit zu bekommen.“ Am meisten sorgt sich Sevleta Mesić heute um ihre Kinder: „Wir Älteren, die noch vor dem Krieg gearbeitet haben, bekommen etwas Rente. Die Jungen finden keine regulären Jobs und arbeiten meist schwarz. Sie bezahlen keine Beiträge. Für die Jugend gibt es hier keine Zukunft.“ 

Dieser Eindruck lässt sich durch Zahlen belegen. Die Arbeitslosenquote in Bosnien und Herzegowina ist mit rund 45 Prozent die höchste in Europa. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei knapp 60 Prozent. Viele suchen ihr Glück in der Ferne. Vor dem Krieg hatte das Land noch 4,5 Millionen Einwohner, heute sind es 3,5 Millionen. Auch die Kinder von Azem und Sevleta Mesić überlegen zu gehen. Ihre Deutschkenntnisse könnten ihnen helfen. So geht es vielen Rückkehrerfamilien: In die Dankbarkeit der Älteren mischt sich Sorge um die  Kinder. Deren Zukunft bleibt ungewiss.

Juni 2017